Buch

Leseproben „Inside out“

Es gibt verschiedene Formen, seine Erlebnisse und Gedanken festzuhalten. Die gebräuchlichste ist das Tagebuchschreiben. Man notiert, was sich täglich ereignet hat und was einem wichtig genug ist, um festgehalten zu werden. Dies kann mehr oder weniger reflektiert geschehen. Thomas Mann z.B. hielt so ziemlich alles fest, was sich an einem Tag tat: vom morgendlichen Rasieren bis hin zum Briefwechsel mit seinem Verleger. Max Frisch handhabte das Tagebuch wie eine Kunstform: er überarbeitete es mehrmals, wohl auch im Hinblick auf die Nachwelt. Und für Martin Walser war das Tagebuch ein Probierfeld für literarische Fingerübungen. Fritz J. Raddatz hielt darin seine Begegnungen mit wichtigen Persönlichkeiten fest, aber auch Eindrücke, die er während seiner Reisen gewann oder bei der Lektüre von Büchern; d.h. er selektierte aus dem Alltagsgeschehen das Besondere.

Dass das Tagebuch nicht mit einer Autobiographie zu verwechseln ist, versteht sich nach dem bisher Gesagten von selbst; dazu ist es zu rhapsodisch; d.h.: es werden relativ flüchtige, oft aber auch unzusammenhängende Ereignisse dargestellt, während die Autobiographie die kontinuierliche Entwicklung einer Persönlichkeit schildert, mithin auf die unverwechselbare Subjektivität eines Individuums gerichtet ist.

Vom Tagebuch zu unterscheiden ist die Form des Journals. Auch dieses ist keine festumrissene literarische Gattung: Jürgen Becker benutzt die Journalform, um Assoziationsketten, die oft einen lyrischen Beiklang haben, daran zu knüpfen. Sie ist für ihn neben seinen Gedichten und Romanen die literarische Form schlechthin geworden.
Eines gemeinsam haben all die erwähnten Formen: sie versuchen eine mehr oder weniger enge Verknüpfung von Leben und Schreiben herzustellen. Am eindringlichsten hat dies Paul Nizon formuliert. Er schreibt über das Verhältnis von Wirklichkeit, Schreiben und Leben:

Die Wirklichkeit ist nicht ein für allemal abzuziehen oder abzufüllen und in Tüte, Schachtel oder Wort mitzunehmen. Sie ereignet sich. Sie will verdeutlichend mitgemacht werden und eigentlich mehr als das: Sie muß hergestellt werden, zum Beispiel im Medium der Sprache.

Nizon setzt Schreiben und Leben in Beziehung, indem er sie in eine sprachliche Form bringt. Ihm geht es darum, sich schreibend das Leben anzueignen und über die Sprache ins Leben zu finden. Paul Nizon hat das Journalschreiben zur höchsten Vollendung entwickelt und damit eine Literaturform geschaffen, deren Qualität der seiner Romane sehr nahe kommt.

Eine Zwischenform zwischen autobiographischem Roman und Journal hat Dieter Wellershoff in seiner Schrift Die Arbeit des Lebens entwickelt. Dort hat er zentrale Weichenstellungen und Einschnitte seiner Schriftstellerexistenz dargestellt. Interessant daran sind seine collageartigen Darstellungen lebensgeschichtlicher Abschnitte: der Autor gibt Einblick in seine Herkunft, die schwierigen Lebensumstände, die seinen Weg als Schriftsteller begleitet haben; aber er greift auch immer wieder auf zeitgeschichtliche Themen zurück, die über die individuelle Lebensgeschichte hinausweisen.

Geschrieben habe ich über 40 Jahre lang. Als Wissenschaftler schrieb ich Texte über Veränderungen der äußeren Welt: in Gesellschaft, Politik und Organisationen. Hin und wieder auch ein Gedicht. Gewissermaßen dazwischen platziert; als Erholung von all dem Bedrängenden, was sich da draußen tat. Irgendwas in mir wollte sich frei machen davon. Das literarische Schreiben unterschied sich dann doch sehr von dem, was ich bisher praktiziert hatte. Das was sich im Inneren aufgehoben hatte, drängte ans Licht. Das Ganze glich einer Selbstbefreiung oder einem Sich-frei-schreiben: alles wollte gleichzeitig hinaus: Gedichte; Essays; Prosatexte – über die Kindheit, Herkunft, eigene Entwicklung.

Bis Ende 2015 habe ich täglich Tagebuch geschrieben, um schließlich festzustellen, dass es da viele Redundanzen; viel Unwichtiges gibt. Kurzum: mir war es zu buchhalterisch.
Daher bin ich übergegangen zum Journalschreiben. Es ist der Versuch, Ausschnitte meines Lebens festzuhalten – wohl wissend, dass das Leben weitergeht und sich nicht festhalten lässt. Aber durch das Schreiben werden bestimmte Ereignisse fixiert; lassen sich noch einmal gedanklich reproduzieren. Man schafft sich gewissermaßen ein Gegenüber, das man abrufen und an dem man sich abarbeiten kann. In meinem Journal halte ich fest, was mir in den letzten zehn Jahren wichtig war: Leseeindrücke; Berichte von Ausstellungen und Konzerten; Begegnungen; Naturschilderungen; Reiseberichte; Reflexionen; Erlebnisse der besonderen Art.

Inside out – das übersetze ich ganz frei – meint: das Innere nach außen kehren. Es handelt sich um Vorstufen der literarischen Verarbeitung; um Schreibversuche; Fingerübungen; Arbeitsnotizen; Materialsammlungen – kurzum: um das Innenleben einer schriftstellerischen Existenzweise, aus deren Rohstoff im Idealfall irgendwann einmal Literatur wird.

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Richard Rorty ist gestorben. Einer der Philosophen, die ähnlich wie Jürgen Habermas das zeitgenössische philosophische Denken geprägt haben. Ich hatte vor einiger Zeit zwei Reclam-Bände von ihm gelesen. Seine Philosophie knüpft an den Pragmatismus John Deweys an, nimmt aber auf sehr anregende Weise viele Impulse anderer Philosophen auf; z.B. von Heidegger; Foucault; Wittgenstein; Nietzsche und natürlich Habermas, mit dem er sich ausgiebig auseinandersetzt.

Was mir an den Pragmatikern immer gefallen hat: ihnen geht es nicht um die Klärung ewiger Wahrheiten, sondern ihre Philosophie ist praxisbezogen: sie entwerfen Perspektiven für die Verbesserung des alltäglichen Lebens. Rorty: Der Pragmatismus ist keine Philosophie der Verzweiflung, sondern eine Philosophie der Solidarität.

Ich bekomme Lust, seine Essays noch einmal zu lesen. Rorty scheut sich nicht, Selbstverständliches auszusprechen: Voltaire, Rousseau oder Kant sind weder für den Gulag noch für Vietnam verantwortlich. Gleichermaßen borniert ist es, Marx für die Erstarrung des Sozialismus zu belangen. Schließlich hat Marx keine Theorie des Sozialismus entworfen, sondern eine Kritik der Politischen Ökonomie usw.

Er kritisiert Leute wie Heidegger dafür, aus der Geschichte auszusteigen, um zum wahren Sein vorzudringen, das hinter allem Geschichtlichen liegt. Er schlägt vor, das Wesen und die Entwicklung des Kapitalismus an konkreten Beispielen zu diskutieren; angefangen mit Charles Dickens‘ sozialkritischen Romanen. Das Denken von Heidegger würde nach Rorty nur dazu führen, zwischen Wesen und Akzidens, Wirklichkeit und Erscheinung, Objektivem und Subjektivem zu unterscheiden. Dieses Denken in Dualismen lehnt er entschieden ab. Zu Ende gedacht wären damit Ereignisse wie Auschwitz oder der Gulag nur Akzidenzien der Geschichte. (Habermas kritisiert Heidegger in diesem Zusammenhang mit der Formulierung: Abstraktion durch Verwesentlichung).

Rorty kritisiert als einer der ersten das neoliberale Denken, das sich zu Unrecht auf die liberalen Ökonomen wie Adam Smith, John St. Mill und David Ricardo beruft. Diese hätten immer die Mehrung des Wohlstands für alle als Ziel der Ökonomie im Auge behalten (eine Formel, die Ludwig Ehrhard später als Wahlkampf-Slogan verwendet). Auch einen abstrakten Freiheitsbegriff, wie Merkel ihn etwa benutzt, lässt er nicht durchgehen. Die Entgegensetzung von Freiheit und Staat sei historisch überholt. Für die Ex-DDR-Bürgerin Merkel sei alles Staatliche mit dem Makel von Repression, Bevormundung und Einengung verbunden. Dagegen sei der moderne Sozialstaat gerade die Voraussetzung dafür, dass Menschen von ihren Freiheitsrechten auch Gebrauch machen können.

Schließlich kritisiert Rorty auch die Dialektik der Aufklärung von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer als Versuch, nachzuweisen, dass die Hoffnungen der Aufklärung vergeblich gewesen seien. Lesenswert seine Schriften: Solidarität oder Objektivität und Kultur ohne Zentrum.

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Weiter intensive Korrespondenz mit Kolbe. In der entscheidenden Frage, dem Verhältnis von Wissen und Glauben, sprechen wir verschiedene Sprachen. Für ihn ist Glauben etwas Objektives, das man folglich auch wissen kann. Für mich gehören Glauben und Wissen ganz verschiedenen Sphären an, sonst bräuchte man ja beide Begriffe nicht. Er interessiert sich für den Unterschied zwischen wissenschaftlichem, journalistischem und literarischem Schreiben. Und immer wieder betont er, wie sehr ihn Die Mission beschäftigt; er habe das Buch bereits zum zweiten Mal gelesen.

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Auch Zezo schreibt mir zum Buch; er hat es dreimal gelesen: es führt zu Selbstgesprächen, sagt er. Und dann findet er die schöne Formulierung: Wolltest du zeigen, dass die Welt sich nicht umarmen lässt?


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