Buch Leseprobe "Leben und Schreiben – was sonst? Ein Streifzug durch die Werkausgabe von Dieter Wellershoff"

Aus: Die Verteidigung des Poetischen (WA 4, 301-316)

Als Dieter Wellershoff 1972 den Beitrag unter dem Titel Transzendenz und scheinhafter Mehrwert. Zur Kategorie des Poetischen schrieb, befand er sich als Schriftsteller (und hauptberuflicher Lektor) selbst in einem Findungsprozess. Allerdings waren die Parameter seiner ästhetischen Orientierung zu diesem Zeitpunkt längst klar abgesteckt: Weder konnte er einer in Mode gekommenen Verheißung vom Ende der Kunst (und damit des Poetischen) zugunsten ihrer Politisierung und des Nachweises ihrer praktischen Nützlichkeit etwas abgewinnen, noch einer Richtung, in der sich die Sprache als Medium selbst genügt und das Schreiben sich vom Leben „emanzipiert“. Dagegen legte er die Messlatte für das Poetische höher und formulierte erweiterte und vertiefte Ansprüche an das realistische Schreiben. Hierbei knüpfte er an die besten Traditionen in der Literatur an, bezog aber auch neuere Stilkonzepte wie etwa den Nouveau Roman ein, die ihm gleichermaßen Ansatzpunkte für seine Vorstellungen vom Poetischen lieferten.
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Um verständlich zu machen, was er unter dem Poetischen versteht, rekurriert er auf Beispiele in der Literaturgeschichte, allen voran auf Flauberts Madame Bovary. Diesem Roman entnimmt er eine Schlüsselszene, in der die zerstörte Hoffnung Mme. Bovarys auf ein gemeinsames Leben mit dem Geliebten im Bild eines Sommertages sinnfällig wird; wo ihre Wahrnehmung sich in Vieldeutigkeit und Widersprüchlichkeit verflüchtigt; wo der innere Zustand der Unglücklichen sich nach außen wendet und als objektive Erscheinung zutage tritt. Dieses intensive In-Erscheinung-Treten eines verborgenen, vom Begriff noch nicht eingeholten Sinns möchte ich eine poetische Erfahrung nennen. Sie scheint der Traumerfahrung verwandt zu sein oder dem staunenden überwältigten Schauen eines Kindes, das distanzlos einem neuen Eindruck ausgeliefert ist. Auch manche Erinnerungen haben etwas davon, wiederkehrende Bilder, die sich uns zeigen, ohne daß wir den Zusammenhang finden, in den wir sie wegordnen können. Vergessene Wünsche und Ängste scheinen im Hintergrund dieser Erfahrung bereitzuliegen. Sie geben sich nicht ganz zu erkennen, laden aber die Erscheinungen mit einem Strom von Energie auf. Alles kann poetisch sein, eine unverständliche Stimme im Nebenzimmer, ihr plötzliches Schweigen, ein Motorgeräusch, das Tropfen eines Wasserhahns ... jeder Natureindruck, jedes Ding unseres täglichen Umgangs. Aber es muß dazu aus seinen gewöhnlichen Bezügen herausgerückt sein, muß uns größer, kleiner, näher, ferner erscheinen, es muß in ungewohnten Zusammenhängen oder Momenten auftauchen, erschreckend beleuchtet oder geheimnisvoll verdunkelt, und vor allem in seinem Für-sich-sein, seiner undurchdringlichen Dichte, die all unser Bescheidwissen abweist. Wir verfügen nicht mehr mit den Routinen unseres alltäglichen praktischen Umgangs über das poetische Objekt, es wird nicht mehr vom Kontinuum unserer Konventionen gebunden ... diese Vertrautheiten sind alle gekündigt, und aus der wiederhergestellten ursprünglichen Fremdheit beginnt das Ding zu wuchern und etwas anderes zu werden. Es transzendiert die Welt eindimensionaler Faktizität. Der tropfende Wasserhahn wird zum Bild einer drohenden Gefahr oder der Einsamkeit, der Gefangenschaft, der vergehenden Zeit, der nichtigen Zeit des inneren Stillstandes und des Todes.

Die poetische Erfahrung ist nach Wellershoff demnach das vorbegriffliche In-Erscheinung-Treten eines verborgenen Sinns, ein Zustand gesteigerter Phantasietätigkeit, der sich Eindeutigkeiten und vordergründigen Zwecksetzungen verweigert, der die praktischen Erfordernisse der Realitätsbewältigung transzendiert und den Dingen einen anderen, verborgenen Sinn entlockt. Der Gegenstand des Poetischen verselbständigt sich, führt ein den alltäglichen Erfordernissen entrücktes Eigenleben, voller Symbolik und Transzendenz und doch etwas Reales, Für-sich-Seiendes. Das ist das Wesen der Poesie, und ohne die poetische Dimension der Transzendenz ist für Wellershoff keine Literatur von Bestand. Er verweist darauf, dass es zwischen den Bereichen Poesie, Imagination und Spiel auf der einen Seite und der Praxis auf der anderen Seite vielfältige Abgrenzungen und Vermittlungen gibt, die es zu bearbeiten gilt, damit der Mensch sich als historisches Wesen begreifen kann, das unabgeschlossen ist und in keiner Gestalt zur Ruhe kommt.




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